Athen
Nur 134 Corona-Tote zählt das elf Millionen Einwohner
zählende Griechenland, etwas mehr als 2500 Corona-Fälle sind gemeldet.
Verschwindend wenig. Beinahe scheint es so, als habe das hochansteckende
Coronavirus,
dieser unsichtbare, tückische Killer, der Milliarden Menschen rund um
den Globus in Atem hält, einen gewaltigen Bogen um das kleine Land mit
der großen Geschichte geschlagen.
Daher habe Griechenland gemessen an seiner Bevölkerungszahl
viel weniger Corona-Tote und Kranke zu beklagen. Die Griechen seien ein
Vorbild für den coronageplagten Rest der Welt. Endlich wieder. Sotiris
Tsiodras, der Drosten Griechenlands, der allabendlich mit seiner
angenehm sanften, väterlich wirkenden Stimme die aktualisierte
Corona-Statistik vor einem Millionenpublikum am Fernseher bekanntgibt,
ist hierzulande zum populärsten Griechen avanciert.
Premierminister Kyriakos Mitsotakis wiederum, ein bekennender Wirtschaftsliberaler, der Anfang Juli seinen linken Vorgänger Alexis Tsipras
mit einem Wahltriumph aus dem Amt jagte, hat in Umfragen weiter
deutlich zugelegt. Fänden heute Wahlen in Griechenland statt, würde
Mitsotakis’ konservative Nea Dimokratia (ND) einen Kantersieg feiern. Wegen der schönen griechischen Corona-Statistik.
Geschönte Realität
Nur: Die Zahlen haben herzlich wenig mit der Realität zu
tun. Der Grund: Bis zum 26. April, genau 60 Tage nach dem ersten
festgestellten Corona-Fall in Griechenland, haben die Behörden insgesamt
nur 64 608 Labor-Tests durchgeführt. Dies entspricht im Schnitt 1000
Tests pro Tag. Das ist lächerlich wenig.
Dabei ist auch unbekannt, wie viele Tests mehrmals bei
einzelnen Personen durchgeführt wurden. Griechenland ist in Sachen
Coronavirus eine Testwüste. Mitsotakis, Tsiodras und Co. handeln nach
dem simplen Motto: „Keine Tests, keine Corona-Fälle.“
Hohe Dunkelziffer
Wer nun glaubt, die Griechen hielten sich im Kampf gegen die
Pandemie brav an die Restriktionen, der irrt gewaltig. Ob in den
Straßen, den Supermärkten oder Apotheken: Sie sind nicht nur voll,
sondern übervoll. Der Sicherheitsabstand wird kaum eingehalten, Mund-
und Nasenschutz tragen die wenigsten.
Unterdessen mehren sich die Anzeichen dafür, dass die
Corona-Dunkelziffer in Griechenland weitaus höher als in ungleich
testfreudigeren Ländern ist. Erst kürzlich starben drei mit dem
Coronavirus infizierte Menschen in zwei Privatkliniken in Athen.
Dutzende Patienten wurden positiv auf Corona getestet, nachträglich
wohlgemerkt.
Die Corona-Fiktion auf Griechisch nutzt Mitsotakis nicht nur
innenpolitisch. Die regierungsnahe Athener Qualitätszeitung
„Kathimerini“ titelte am Sonntag: „Der Erfolg in der Pandemie, eine
Chance für Griechenland. Wie Hellas Touristen anlocken will.“
Unanständiges Locken
Tatsächlich hat die Regierung Mitsotakis bereits damit
begonnen, Griechenland als in Corona-Zeiten ideales Urlaubsziel für
ausländische Touristen zu präsentieren. Unverhohlen prahlt der
stellvertretende ND-Vorsitzende und griechische Wirtschaftsminister Adonis Georgiadis damit, Griechenland werde „der große Krisengewinner in der diesjährigen Reisesaison“ sein.
Georgiadis’ dubiose Lesart: Da Italien, Spanien, Portugal
sowie die Türkei mit ihren ungleich höheren Corona-Fällen für
Deutsche, Österreicher, Schweizer, Franzosen und Briten kaum in Frage
kämen, werde das offiziell fast virenfreie und folglich am Mittelmeer
allein auf weiter Flur stehende Griechenland von Abermillionen
sonnenhungriger Nordeuropäer angesteuert werden.
Fakt ist: Kein anderes Land in Europa ist so vom Tourismus
abhängig wie Griechenland. Blieben die Urlauber hierzulande aus, hätte
dies für Hellas’ Wirtschaft katastrophale Folgen.
Erst allmählich rappelte sich Hellas wieder auf. Nach der
Krise folgt nun die nächste Krise. Das ist für Griechenland, Europas
Schuldenkönig, ein herber Rückschlag. Mit der griechischen Mär über die
vermeintlichen Triumphe im Kampf gegen Corona wollen nun die Schlaumeier
in Athen offenbar retten, was noch zu retten ist. Ob das nicht zuletzt
gegenüber leichtgläubigen, unbedarften Urlaubern unanständig ist, schert
sie offenkundig herzlich wenig.
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